Veröffentlicht am 9. November 2024

Die Freiheit hoch halten!

Meinungsbeitrag

Demokratische Werte sind unsterblich. Demokratien nicht. Deshalb: Die Freiheit hoch halten! (Meinungsbeitrag von Michael Sasse)

„Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“ Dass die Mauer und SED-Diktatur wirklich gefallen ist, daran haben viele mitgewirkt. In erster Linie aber mutige Menschen in der ehemaligen DDR. Die Sehnsucht nach Freiheit hat sie angetrieben.

Frei zu reden, frei zu reisen, frei ihren Beruf zu wählen. Oder kurz gesagt: Frei zu sein und frei zu leben! Auch heute sind Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit und müssen von uns gemeinsam verteidigt werden. Deshalb lautet das Motto des diesjährigen Jubiläums zum 35. Jahrestag des Mauerfalls (9. November 2024) in Berlin: Haltet die Freiheit hoch! Der Jahrestag des Mauerfalls wird aber nicht nur mit politischen Reden und offiziellen Gedenkfeiern begangen.

Sondern auch mit einer ganz besonderen Ausstellung. Mit tausenden Plakaten als Open-Air-Installation vier Kilometer entlang der ehemaligen Mauerlinie in Berlin. Eine große demokratische Kunstinstallation „Haltet die Freiheit hoch!“

Rotkäppchen-Sekt, Umarmungen, Freudentränen.

Wie haben wir diesen Moment 1989 geliebt. Stunden, Wochen des Glücks und der Unbeschwertheit. Nicht mit dem Taxi, mit dem Trabi nach Paris. Mut machende Botschaften gaben Kraft: „Es wächst zusammen, was zusammengehört.“

Und wo stehen wir heute, 35 Jahre später?

Das Trennende wächst wieder. Und es wächst weiter. Nicht nur zwischen Ost und West. In unserer ganzen Republik. Viele Deutsche haben das Gefühl, sich mitten in einer grundsätzlichen, der besagten Zeitenwende zu befinden. Aber ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Gleichzeitig besitzen wir Deutschen die fast schon seismografische Gabe, vor allem das zu sehen und zu spüren, was nicht gut läuft. Die täglichen Fernseh-Talk-Shows sind nichts anderes als ein Weihefest des deutschen Selbstzweifels.

Es herrscht allgemeine Krisenstimmung. Noch haben wir Boden unter den Füßen, aber Angst, beim nächsten Schritt nach vorn in ein schwarzes Loch zu stürzen. Ein schwarzes Loch, das einen ganzen Staat schlucken kann.

Angst kann produktiv sein – solange sie zu Wachsamkeit und zu gesteigerter Beweglichkeit motiviert. Verhängnisvoll wird es jedoch, wenn sie uns beherrscht. Denn Angststarre bringt keinen Fortschritt.

Gleichzeitig wird uns im Internet ein glücksmaximiertes Leben mit Vollkasko vorgegaukelt. Doch das Leben hat sehr analoge Seite. Und diese analoge Seite des echten Lebens hat Falten, Krisen und Ängste. Die berechenbare Sicherheit des Hamsterrades wirkt jedoch für viele von uns besser aus haltbar als die Unwägbarkeiten des Übergangs und der Veränderung. Aber die Welt wird nun einmal nicht erst begehbar, wenn der TÜV sie für uns geprüft hat. Machen wir den Schritt. Wir müssen raus aus dem Hamsterrad.

Eine Gesellschaft, die nicht mehr von Zukunft träumt und zugleich nur noch zweifelt läuft Gefahr, ihre Visionslosigkeit durch unrealistische und lebensfeindliche Wunschträume zu ersetzen.

Wir verfügen über die Mittel. Wir haben alles, was wir brauchen, um den neuen Herausforderungen zu begegnen. Schließlich sind wir nach wie vor eine der wohlhabendsten, mächtigen und angesehensten Nationen der Welt. Trauen wir uns!

Wie gestalten wir unser Morgen?

Seien wir ehrlich: Deutschland lebt von seinen Widersprüchen und seinen Doppelbegabungen. Deutschland ist ein Land der Effizienz- und Leistungsstärke. Aber eben auch ein Land der Denker.

Auf der einen Seite Kreative, Erfinder, Naturwissenschaftler, auf der anderen Seite meisterliche Organisatoren und Logistiker. Mit Sicherheit und Verlässlichkeit. Beides brauchen wir. Und ein gemeinsames Verständnis davon, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen soll. Wie wir Morgen leben wollen. Wie wir Zusammen Leben wollen. Mit mehr Nähe statt immer mehr Distanz.  Mehr Harmonie. Ohne Hass und Hetze.

Mit unseren jungen Menschen, unserer Energie, unserer Vielfalt und Offenheit sollte die Zukunft uns gehören. Aber all diese Potenziale können wir aber nur entfalten, wenn unsere Demokratie funktioniert.

Nur, wenn wir alle, unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Einzelinteressen, dazu beitragen, dass wir das Gespür für unsere gemeinsamen Ziele wieder entwickeln. Das wir gerade jetzt so dringend brauchen.

Die Mütter und Väter der Bundesrepublik haben miteinander diskutiert. Sie haben gestritten. Irgendwann haben sie Kompromisse gefunden. Von uns erwarteten sie das Gleiche. Und das Gleiche dürfen wir von all den Demokraten einfordern, die aktuell über über die Zukunft unseres Landes ringen: Kommt zusammen und seid fähig zum Kompromiss!

Demokratie funktioniert nur mit Kompromissen

Die Mütter und Väter der Bundesrepublik wussten, dass Demokratie ein Gefühl grundlegender Solidarität erfordert. Den Gedanken, dass wir trotz aller äußerlichen Unterschiede in einem Boot sitzen.

Die Entstehung offener parteipolitischer Gräben lässt dieses Auseinanderdividieren derzeit natürlich, ja sogar unvermeidlich erscheinen. Wir fühlen uns in unserem jeweiligen Mikrokosmus immer sicherer, so dass wir anfangen, unabhängig vom Wahrheitsgehalt nur noch Informationen zu vertrauen, die zu unserer Meinung passen. Statt uns unsere Meinung anhand der vorhandenen Fakten zu bilden.

Aber ohne Übereinstimmung bei den grundlegenden Sachverhalten, ohne die Bereitschaft, neue Informationen zuzulassen und einzuräumen, dass ein Gegner womöglich ein gutes Argument anführt und Wissenschaft und Vernunft wichtig sind, werden wir weiter aneinander vorbeireden. Und es somit unmöglich machen, Gemeinsamkeiten und Kompromisse zu finden.

Wir Demokraten müssen wieder stärker zusammenfinden.

Denn unsere Freiheit und unsere Ordnung werden derzeit infrage gestellt – von religiösen Fanatikern, von Reichsbürgern, von Rechtsterroristen.  Und nicht zuletzt von Autokraten in anderen Ländern, die in freien Märkten, unseren Demokratien und unserer Zivilgesellschaft eine Bedrohung für ihre Macht sehen. Wie Wladimir Putin.

Die Gefahr, die diese Autokraten für unsere Demokratie darstellen, ist enorm. Ihre Propaganda reicht viel weiter als ihre Lenkwaffen.

Sie schüren bei uns die Angst vor Wandel, die Angst vor Menschen, die anders aussehen, sprechen oder beten. Sie schüren die Verachtung für Rechtsstaatlichkeit. Und ihre Handlager in unseren Parlamenten wollen nichts anderes als den fortwährenden Kollaps in Deutschland. Die ständige Angst wird von ihnen gepflegt, denn es ist der Nährboden für ihre Machtergreifung und den Machterhalt. Sie wollen, dass es Deutschland fortwährend schlecht geht. Denn dann geht es ihnen gut.

Lassen Sie uns stattdessen vor allem an eins glauben: Glauben wir an unsere Fähigkeit, Wandel zu bewirken! Das Morgen gemeinsam zu gestalten. Bleiben wir mutig und hoffnungsvoll!

Denn wir alle haben, vielmehr als Kanzler, Minister und Staatssekretäre, eine viel wichtigere Funktion und ein sehr wichtiges Amt in unserem Land:

Wir sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland.